Mit dem morgigen Karfreitag ist der Höhepunkt der Karwoche erreicht. Es ist der Tag, an dem wir an das Leiden und Sterben Jesu erinnern. Und mitfühlen. Mit allen, die leiden, die aus dieser Welt zu fallen drohen oder in der Nähe des Todes sind.
Ein ernster Tag, und ein stiller Tag. Der in unserer Gesellschaft mehr und mehr umstritten ist. Und der irgendwie zur Unzeit kommt, mitten hinein in die Frühlingsgefühle, die jetzt nach einem langen Winter allmählich wieder erwachen. Die Zeichen im Kalenderjahr stehen auf Aufbruch, während der Karfreitag auf einen Abbruch hinweist. Der Kalender feiert den Frühling, die Ferien, einige Urlaubstage – und überhaupt ist in den Geschäften seit Wochen schon Ostern.
In diese Stimmung hinein sagt der Karfreitag: Achtung; jetzt sollten Sie besonders aufpassen. Es gibt Menschen, die aus der Welt zu fallen drohen oder schon gefallen sind.
Er könnte um die sechzig Jahre alt sein, humpelt etwas. Laufen fällt ihm schwer. Sein Gesicht verzerrt sich bei jedem Schritt, als habe er Schmerzen. Er sieht nichts außer sich selbst. Seine Kleidung wirkt ärmlich, der dicke Pullover ist etwas ausgefranst, die Hosen viel zu weit. Und eine Frisur war einmal, geblieben ist Durcheinander. Ein Mann wie aus der Welt gefallen. Er geht und lebt und denkt nur in seiner Welt, so scheint es. Viele Menschen eilen an ihm vorbei, manchmal müssen sie einen Umweg machen, er selbst kann ihnen nicht ausweichen.
Er geht mir nicht aus dem Kopf. Ich kenne ihn gar nicht, habe ihn gerade mal zwei Minuten gesehen, in der Fußgängerzone. Ich weiß nichts von ihm, vielleicht aber auch alles. Er ist aus der Welt gefallen. Das genügt schon, um Mitleid zu haben. Ich selber kann normal gehen, habe einen schönen Mantel und Geld für den Friseur. Der Mann aber hinkt nur noch, sein Pullover bleibt schmuddelig und seine Haare brauchen Wasser. Sonst weiß ich nichts von ihm, fühle aber eine Menge. Wer aus der Welt gefallen ist, zeigt das nicht gerne. Irgendwann aber kann man es nicht mehr verstecken. Irgendwann ist einem egal, was andere denken. Dann ist man unten angekommen. Dann hat man für nichts mehr Sinn als nur den nächsten Schritt. Ob er an allem selbst schuld ist, ist unwichtig. Er tut mir leid. Wer ganz unten ist, aus der Welt gefallen, rechnet mit nichts mehr. Trotzdem bekommt er etwas. Und zwar mein Mitleid. Ich sehe den Mann und denke: Das hat kein Mensch verdient, niemals. Und weil ich so fürchterlich wenig tun kann, habe ich Mitleid mit ihm. Wie mit allen, die aus der Welt gefallen sind. Gott soll sie nicht vergessen; dafür ist er doch da.
Der Karfreitag ist ein „Mitfühltag“. Auch für die, die mit einem eigentlichen Inhalt nichts mehr anfangen können. Ich habe Zeit zu fühlen mit denen, die aus der Welt gefallen sind. Gott sagt mir leise: Achtung! Es gibt nicht nur Fröhlichkeit und Aufbruch, es gibt auch Schmerzen und bittere Not vieler Körper und Seelen. Daran kann ich meist wenig ändern, ich kann aber mitfühlen. Und kann meine Hände falten. Ich kann Gott anbefehlen, was ich fühle, aber nicht zu ändern vermag. Jeden Tag kann ich das. Mit ein paar Minuten Stille.
Wenn Menschen aus unserer Welt fallen, möge sich Gott ihrer erbarmen. Sein Reich ist nicht von dieser Welt. In seinem Reich werden die Letzten die Ersten sein. Was für eine Hoffnung!
Pastor Martin Sundermann, Langholt