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Du darfst das auch – 6. 09.2025

Foto: Dittmar

In der Kathedrale St. Corentin in Quimper/Bretagne erzählt eine Marmorskulptur eine wunderbare Geschichte: 

Eine mittelalterlich gekleidete Frau sitzt auf einem Stuhl. In der linken Hand hält sie das obere Ende einer Schriftrolle, während das untere Ende der Rolle auf ihrem rechten Oberschenkel ruht. Ihr rechter Arm ist behutsam um die Taille eines kleinen Mädchens gelegt. Das Mädchen schaut konzentriert auf den Text der Rolle. Ihr rechter Zeigefinger folgt den Buchstaben. Die erwachsene Frau lässt sie gewähren. Mehr noch: Sie hält ihr den Text hin und bietet ihr mit der Umarmung einen wohlwollenden Schutzraum. Das Mädchen ist Maria, die spätere Mutter von Jesus. Die Erwachsene ist Marias Mutter Anna und damit die Großmutter von Jesus. 

Was für eine schöne Vorstellung! Eine Frau, die lesen kann, unterstützt ein Mädchen beim Lesen lernen. Es ist eine Darstellung im kirchlichen Raum, die entstanden ist, als Lesen und Schreiben in Europa nicht zur Allgemeinbildung gehörten. Es war keinesfalls selbstverständlich, dass einfache Menschen Lesen lernen durften. Schon gar nicht Mädchen. Es sei denn es waren adelige Nonnen. Dieses Bildungsverbot hat sich an manchen Orten bis heute nicht geändert. Nicht nur in Afghanistan ist die Fähigkeit, lesen zu können besonders für Mädchen und Frauen lebensgefährlich. Vor 500 Jahren übersetzte Martin Luther Worte aus der Bibel, die Maria zugeschrieben werden: „Er stößt die Gewaltigen vom Thron und erhebt die Niedrigen. Die Hungrigen füllt er mit Gütern und lässt die Reichen leer ausgehen“ vom Lateinischen ins Deutsche. Nebenbei förderte er das Lesen und Schreiben in Volksschulen, die es bis dahin nicht gab. Ein solcher Wissenszuwachs für alle dürfte den Herrschenden und Reichen nicht gefallen haben. Dumme Menschen lassen sich besser regieren. Das galt damals, und das gilt heute noch. 

Wer Lesen und Schreiben gelernt hat, kann vielleicht einen Vertrag verstehen oder einen Liebesbrief. Ich kann meine Rechte lesen, eine Gebrauchsanweisung oder ein ganzes Parteiprogramm. Mit der Bibel haben die Menschen lange Zeit Lesen und Schreiben gelernt und dabei ganz nebenbei Ansichten und Einsichten erfahren, die ihren begrenzt gehaltenen Horizont deutlich erweiterten. 

Unterstützt wird diese Horizonterweiterung durch Darstellungen wie die von Maria und Anna, die Frauen in das das Recht auf Bildung einbeziehen. Das Menschenrecht auf Bildung wird damit Gottes Wunsch und Willen zugeschrieben. Zum Glück hatte man in der französischen Revolution dieser Darstellung, wie sonst üblich, nicht die Köpfe abgeschlagen. 

Zwei Jahrtausende sind vergangen, seit Maria Jesus zur Welt brachte und mehrere hundert Jahre, seit diese Skulptur von Anna und Maria entstand. Das Menschenrecht auf Bildung wurde und wird immer wieder in Frage gestellt. In sogenannten freiheitlichen Gesellschaften meist subtil durch freiwillig auswählbare Verblödungsprogramme und in Autokratien durch mehr oder weniger massive Staatsgewalt. 

Die Darstellung der kleinen Maria, die beschützt lesen lernt, macht mir Mut, jeden Tag meines Lebens die Vielfalt von Gottes Schöpfung neu zu entdecken und wert zu schätzen. Du darfst das auch!

 

Mathias Dittmar,

Pastor in Ruhe